Im Rahmen seines Lehramtsstudiums Geschichte an der Universität Wien stellte Max Klimesch die beiden Filme Plastic Planet und Population Boom gegenüber. Mit seiner freundlichen Genehmigung präsentieren wir:
Plastic Planet - Population Boom. |
Eine Gegenüberstellung.
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Versuch einer Erklärung von Unterschieden
zwischen zwei Dokumentarfilmen Werner Bootes
anhand verschiedener Vermittlungsinteressen.
Inhaltsverzeichnis |
1. „Der Mensch ist im Prinzip gut.“ – Die Ziele dieser Arbeit |
2. Kurzcharakterisierung der Filme |
2.1 Plastic Planet |
2.1.1 Inhaltliche Zusammenfassung und Deutung |
2.1.2 Botschaft an den Rezipienten |
2.2 Population Boom |
2.2.1 Inhaltliche Zusammenfassung und Deutung |
2.2.2 Meine Welt – gemeinsame Welt: Anteilnahme durch Teilhabe |
3. Gegenüberstellung – Gemeinsamkeiten, Unterschiede, und der Versuch einer Erklärung |
3.1 Gemeinsamkeiten von Plastic Planet und Population Boom |
3.2 Unterschiede zwischen Plastic Planet und Population Boom |
3.3 Versuch einer Erklärung |
3.3.1 Versuch einer Erklärung |
3.3.2 Das letzte Bild – Ein Beispiel zur gebotenen Erklärung |
4. Abschließende Gedanken |
(Anmerkung: Bitte verwenden Sie den Link für Fußnoten und Literaturverzeichnis)
„Der Mensch ist im Prinzip gut“, behauptet der österreichische Regisseur Werner Boote in einem 2013 anlässlich der damaligen Premiere seines Kinofilms Population Boom gehaltenen Interview. Dennoch dürfte Boote der Meinung sein, dass der Mensch daran von Zeit zu Zeit erinnert werden müsse, denn diesem Zweck dienen seine bisher drei Kinodokumentationen, die sich alle gesellschaftskritischen Themen widmen, an das Gewissen des Rezipienten appellieren, und von der Überzeugung getragen sind, dass das Verhalten und Handeln des Individuums zur Überwindung globaler Probleme von Bedeutung sind.
Die detaillierte Auseinandersetzung mit zwei dieser aufgrund der genannten Botschaft als bedeutsam anzusehenden Kinodokumentationen, namentlich mit dem 2009 erschienenen Film Plastic Planet und dem 2013 erschienenen Film Population Boom, bildet den Inhalt dieser Arbeit, die aus zwei Gründen verfasst wurde: Erstens soll, nachdem beide Filme einander gegenübergestellt wurden, unter Zuhilfenahme zahlreicher Beispiele aufgezeigt werden, wie die bei dieser Gegenüberstellung festgemachten Unterschiede zwischen den beiden Filmen anhand der unterschiedlichen Vermittlungsinteressen Bootes erklärt werden können, und zweitens soll mit diesem Text auf diese Arbeiten Bootes an sich aufmerksam gemacht und diese damit gleichzeitig gewürdigt werden.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile:
Zuerst werden beide Dokumentationen unabhängig voneinander behandelt, ihr Inhalt umrissen und gedeutet, dies soll einen Orientierungsrahmen für die im zweiten Teil erfolgte Gegenüberstellung liefern. In dieser werden zuerst die Gemeinsamkeiten beider Filme behandelt und anschließend die Unterschiede, welche anhand der verschiedenen Zielsetzungen dieser Filme zu erklären der Inhalt des diese Gegenüberstellung abschließenden dritten Unterkapitels ist. Da es zu den behandelten Dokumentationen noch keine wissenschaftliche Literatur gibt2, bilden hierbei die Filme selbst die Datenbasis, welche ergänzt wird durch diese Filme betreffende Presseartikel sowie von Boote gehaltene Interviews.
Im Anschluss an diese Gegenüberstellung, welche den Hauptteil dieses Textes ausmacht, werden im letzten Kapitel die Grenzen der angewandten Arbeitsweise aufgezeigt und die bedingte Gültigkeit der gewonnenen Ergebnisse thematisiert.
„Ich habe viel über Teilbereiche zum Thema Kunststoff gelesen. Ich habe viele verschiedene Fernsehberichte gesehen, die immer wieder über einzelne Aspekte berichtet haben. Ich habe mich gefragt, warum es keinen Film gibt, der Alles in Eines zusammen fügt. Mein Wunsch mit diesem Film war, dass man einmal sieht, was eigentlich alles umfassend über Kunststoffe zu sagen ist.“3
Diesen von ihm selbst geäußerten Wunsch hat sich Werner Boote mit dem am 18. September 2009 in den Kinos erschienenen Dokumentarfilm „Plastic Planet“, nach einer insgesamt beinahe zehnjährigen Umsetzungsphase4, erfüllt.
Im Folgenden werde ich diesen Dokumentarfilm zum besseren Verständnis der im Kapitel 4 behandelten Gegenüberstellung von Plastic Planet und Population Boom in aller gebotenen Kürze inhaltlich zusammenfassen, um eine Vorstellung vom Aufbau des Films zu vermitteln.
Der Film beginnt, und hier liegt das Geschick Werner Bootes, nicht mit einer (negativ) wertenden Aussage über Plastik, sondern vielmehr neutral: Mit Plastik verbundene Szenen aus Bootes Kindheit werden gezeigt, und der Präsident von PlasticsEurope, John Taylor, kann sich ohne größere Widersprüche von Seiten Bootes über die Vorteile von Plastik äußern. Erst in der 11. Minute, wenn der Humangenetiker Klaus Rhomberg den zuvor im Film getätigten Behauptungen über die Stabilität (und damit Harmlosigkeit) von Plastikmolekülen entschieden widerspricht5, ändert sich der Grundtenor des Filmes: In den nächsten fast 60 Minuten wird Boote beim Sammeln von Informationen gezeigt, und im Laufe seiner Gespräche mit Experten, Betroffenen, und Vertretern der Plastikindustrie wird ein immer düsterer werdendes Bild von Plastik und seinen Auswirkungen gezeichnet, einem Stoff, der Zellsterben verursachen kann6 und gar für den Tod von Baby-Albatrossen verantwortlich ist7.
Auf Boote selbst hinterlassen diese Informationen sichtlich Eindruck, der „Hauptdarsteller“, welcher Dreh- und Angelpunkt dieser Dokumentation ist (vgl. Kapitel 4.1), macht eine deutliche Entwicklung durch: Während er zu Beginn des Filmes in Minute 5 bedenkenlos im Supermarkt Plastikflaschen einkauft (und dabei demonstrativ unbekümmert pfeift)8, wirft er in Minute 63 der Plastikflasche, aus der zu trinken er gerade im Begriff ist, einen misstrauischen Blick zu und verschließt sie wieder – (vorerst) ohne einen Schluck daraus zu nehmen9. Diese Entwicklung Bootes kulminiert in dem Entschluss, John Taylor (der im Film als Stellvertreter der Plastikindustrie „an sich“ fungiert) auf einer Kunstoffmesse mit den recherchierten Ergebnissen zu konfrontieren – im bekannt „naiven“ Stile Bootes, also eher bittend-drängend als anklagend. Dass seine Anliegen hier nicht ernst genommen werden (die daraus resultierende Botschaft an den Zuseher lautet sinngemäß: „Von sich aus wird die Industrie nichts an den bestehenden Zuständen ändern“), bildet die Voraussetzung für den ca. 20 Minuten dauernden abschließenden thematischen Block des Filmes, in welchem, immer unter Vorbehalt, Wege und Möglichkeiten zur Veränderung der Situation thematisiert werden:
Die Macht des Konsumverhaltens10wird ebenso erwähnt wie Möglichkeiten des Recyclings und alternativer Rohstoffe; besonders herausgestrichen (und an den Schluss dieser verschiedenen Möglichkeiten gestellt) wird im Gespräch mit Margot Wallström, einem Mitglied der Europäischen Kommission, die Möglichkeit der politisch/gesetzlichen Regulierung des Handelns großer Konzerne11.
Die mit diesem Film angestrebten Auswirkungen lassen sich meines Erachtens in zwei Gruppen einteilen: Erstens richtet er sich an die Gesellschaft als Ganzes und an die Politik, wenn zum Beispiel Regulierungen der Plastikindustrie (etwa bessere Kosumenteninformation durch Bekanntgabe der Inhaltsstoffe von Plastikverpackungen12) oder verstärkte Investitionen zur Erforschung von Alternativen13 gefordert werden.
Zweitens wendet er sich an die Menschen als Individuen, in ihrer Rolle als Konsumenten (oder eben Nicht-Konsumenten) von Plastik. Besonders gut ersichtlich wird diese Intention, wenn man Werner Bootes Website besucht, auf der Beiträge wie „Aktiv nach dem Film“, „Was kann ich tun“ sowie „Plastikfrei einkaufen“ zu finden sind14.
Stellvertretend für die (verständlicherweise kaum in konkrete Zahlen zu fassenden) Menschen, deren Konsum- und Denkverhalten durch diesen Film beeinflusst wurden, sei hier nur das Beispiel von Sandra Krautwaschl genannt, die gemeinsam mit ihrer Familie jahrelang plastikfrei gelebt und über ihre dabei gemachten Erfahrungen ein Buch verfasst hat, in welchem der Film Plastic Planet explizit als Auslöser für diese Entscheidung genannt wird:
„An diesem Tag besuchte ich mit einer Freundin die Premiere des Films Plastic Planet (…)
Und plötzlich wurde alles anders. Für mich und für meine Familie.“15
Die erste Viertelstunde des Filmes nutzt Boote, um das Phänomen der Überbevölkerung zu erklären, und dabei klar zu machen, von wem die Ansicht, es gäbe ein Problem dieser Art, welches für Armut und Hunger verantwortlich ist, vertreten und verbreitet wird – nämlich in erster Linie von den Reichen und Mächtigen.
Obwohl die Skepsis Bootes recht früh deutlich gemacht wird, spricht er hier (noch) nicht von einem „Märchen (…) der Überbevölkerung“ 16, wie er dies zu einem späteren Zeitpunkt tun wird, sondern setzt sich stattdessen mit den Auswirkungen einer solchen Betrachtungsweise auseinander, indem er verschiedene Staaten (Mexiko, China, Indien) besucht und die unterschiedlichen Politiken zur Bevölkerungskontrolle in Gesprächen mit Experten und der Bevölkerung beleuchtet. Dabei wird deren mangelnder Nutzen für breite Bevölkerungsschichten ebenso thematisiert wie offenkundige gesamtgesellschaftliche Nachteile einer rigorosen Geburtenbeschränkung17. Infolge dieser Erfahrungen äußert Boote in der 36. Minute schließlich einen Gedanken, der die Grundbotschaft dieses Films darstellt und auch im weiteren Verlauf immer wieder aufgegriffen und bestärkt wird:
„Der Grund für Armut und Hunger ist mit Sicherheit nicht das Bevölkerungswachstum, sondern dass sich manche nicht mit ein wenig weniger zufrieden geben.“18 – Verteilungs(un)gerechtigkeit ist also das eigentliche Problem, welches dieser Film behandelt.
Nach einem längeren Afrika-Block (welcher meines Erachtens zwei Zwecken dient: Zum einen wird versucht– mithilfe der Sequenz in der Geburtenstation – den Wert eines jeden Menschenlebens zu vermitteln, zum anderen soll der Mythos des dichtbevölkerten Afrikas als ein solcher aufgezeigt werden19) wird versucht, die Angst vor einer Überbevölkerung der Erde durch Umkehr der Vorzeichen ad absurdum zu führen, wenn Boote eine Schule in Japan besucht, die geschlossen werden musste, weil es zu wenige Nachwuchs in der Umgebung gab.
Die Gespräche mit zwei Demographen, die zwar örtlich getrennt (USA, Helsinki), im Film aber direkt aufeinander folgend stattfinden, demonstrieren dem Zuseher nicht nur, dass Boote mit seinen Ansichten nicht alleine ist, sonders es auch namhafte Experten gibt, welche die Überbevölkerung als ein fiktives Problem ansehen, sondern sollen ein weiteres Mal verdeutlichen, wer stattdessen die Hauptschuld an den real existierenden Missständen trägt:
Jene Leute „on the 15th storey of the building on wallstreet“20, die an unserem Finanzsystem herumspielen.
Der Film findet seinen Abschluss in Bangladesch zur Zeit einer muslimischen Weltkongregation. Die Zeit und der Ort sind vom Regisseur klug gewählt, denn zwar gibt es „mit Sicherheit (…) heute an keinem anderen Ort der Erde so viele Menschen auf so engem Raum“21, doch funktioniert das gezeigte Zusammenleben nichtsdestotrotz recht gut. Und Boote, welcher sich im Film wiederholt für Maß und Zurückhaltung im Konsum ausgesprochen hat (deren Fehlen ja die Ursachen für die erwähnte Verteilungsungerechtigkeit sind), vergisst nicht anzumerken, weshalb es trotz dieser Zusammenballung kaum Probleme gibt, nämlich „aufgrund der bescheidenen Ansprüche der Teilnehmer“22.
„Ist die Erde zu klein, oder sind da zu viele Menschen auf meinem [Hervorhebung durch den Autor] Planeten?“23, fragt Boote zu Beginn des Filmes, und diese (ironische) Inanspruchnahme des Planeten, an der man sich unwillkürlich sogleich stößt, deckt gleich ein Grundproblem auf, welches wohl alle Befürworter einer Überbevölkerungstheorie betrifft: Es wird unterschieden zwischen dem „Ich/Uns“ und „den anderen“ - und es sind immer die anderen, von denen es zu viele gibt.
Dieses Problem, welches von Boote an anderer Stelle auch durchaus explizit erwähnt wird24, nämlich das Denken in Kategorien von „wir“ und „die“ (wobei diesem Denken, jedenfalls soweit es Fragen der Bevölkerungsreduktion betrifft, inhärent ist, dass „wir“ (Wenige) mehr wert sind als „die“ (Vielen)), kann, so die Annahme im Film, überwunden werden durch das Denken im Rahmen einer globalen Gemeinschaft, und Boote versucht durch Fragen wie „Wer von uns ist zuviel?“25 und gemeinhin eher unüblichen Formulierungen wie „Jeder Fünfte von uns ist Chinese“26 zum Nachdenken über dieses weitverbreitete Lagerdenken anzuregen.
Am Ende des Films zeigt Boote, ohne darauf hinzuweisen, bildsprachlich den Unterschied zwischen beiden Denkweisen: Vor dem Gespräch mit der Aktivistin Farida Akhter reist er in Bangladesch in einer von einem Einheimischen gezogenen Rikscha, im Anzug und den Schirm wie einen Gehstock haltend – quasi in kolonialer Manier27. Nach dem Interview, in welchem von Akhter wieder das Gemeinsame hervorgehoben wird28, bietet sich ein völlig anderes Bild: Nun bewegt sich der Regisseur, plötzlich mit einem schlichten Hemd angetan und ohne den ihn von Beginn an begleitenden Schirm, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit Bus und Zug, fort – diese Aufnahmen kennen nur noch ein „wir“29.
Nachdem nun beide Dokumentarfilme einzeln und unabhängig voneinander behandelt wurden, werden sie in diesem Kapitel, welches als das Herzstück der vorliegenden Arbeit angesehen werden kann, vergleichend betrachtet. Es geht mir hierbei nicht um ein Werten der Qualität dieser Dokumentationen (was auch vermessen wäre), das Vergleichen dient also nicht dem Zweck zu bestimmen, welche Dokumentation besser ist (oder mir besser gefällt). Der Fokus liegt stattdessen darauf, das Verbindende und das Trennende dieser Filme zu benennen und mit Beispielen zu unterlegen. Dabei werde ich in einem ersten Schritt auf die (meines Erachtens offenkundigeren) Gemeinsamkeiten eingehen, und im Anschluss die vielleicht weniger leicht ersichtlichen Unterschiede behandeln.
Abschließend werde ich in einem letzten Unterpunkt eine (mögliche!) Erklärung für die gefundenen Differenzen erläutern, mit der in meinen Augen zumindest einige von ihnen plausibel begründet werden können.
Bill Nichols und, als Kommentator seiner Arbeit, Bernstein, liefern uns eine mögliche grobe Einteilung von Dokumentarfilmen nach verschiedenen Ansätzen oder Stilen30.
Zwar merkt Kuchenbuch kritisch an, dass sich fast jeder Dokumentarfilm – und dies trifft auch auf die hier behandelten zu – mehreren dieser Kategorien zuordnen lässt, doch stellt diese Einteilung meiner Meinung nach nichtsdestoweniger ein nützliches Werkzeug zur Typisierung dar, vor allem, wenn einer dieser Ansätze als dominanter identifiziert werden kann.
Folgt man Nichols Typisierung, kommt man bei den Filmen Plastic Planet und Population Boom zum gleichen Ergebnis: Beide sind zuallererst dem eindeutig dominierenden „interview orientated style“ (oder, nach Bernstein, was es in diesen Fällen besser trifft, dem „interactive mode“) zuzuordnen, bei dem der Filmemacher selbst in das Geschehen eingreift und als Kontaktmann, als handelnder Sammler von Gesprächen und Informationen auftritt.
Des Weiteren sind bei beiden Filmen auch Merkmale des „expository mode“ und des „reflexive mode“ (beides nach Bernstein) auszumachen, da es bei beiden – wenn auch nicht von Anfang an ersichtlich - eine bestimmte These gibt, die der Film untermauern will, und bei beiden der Zuschauer – zumindest vorgeblich – zu einem eigenständigen Urteil ermuntert wird. Zu demselben Ergebnis kommt auch Clara Migsch31, die sich in ihrer Diplomarbeit bereits mit dem Film Plastic Planet im Zusammenhang mit der Globalisierung auseinandergesetzt hat. Von diesen beiden Stilen ist allerdings m. E. der „expository mode“ der bedeutendere, da beide Filme den Zuseher geradezu zu den von Boote intendierten Urteilen hinsichtlich der behandelten Thematiken drängen.
Boote bedient sich zur Vermittlung seiner Botschaften in beiden Filmen einer erstaunlichen Vielfalt von Techniken; es ist, um es salopp zu sagen, von allem etwas dabei: Landschaftsaufnahmen wechseln sich mit Interviews und Statements ab, gedreht wird sowohl vom Helikopter aus als auch mitten im Geschehen32, Boote selbst befindet sich bald vor, bald hinter der Kamera, seine Stimme hört der Zuseher nicht nur in Gesprächen, sondern auch erklärend aus dem Off (in einer Szene überlagern sich Bootes „Stimmen“ gar33), Musik wird nicht nur zur Untermalung, sondern auch zur Erzeugung von Stimmungen eingesetzt. Hinzu kommt der Einsatz von älterem, also ursprünglich nicht für diese Dokumentationen hergestelltem Filmmaterial, wobei sich der Bogen hier von Nachrichtensendungen34 über private Filme aus Bootes Kindheit35 bis hin zu Werbespots36 spannt. Abschließend seien noch die (allerdings nur in Plastic Planet vorkommenden) animierten Sequenzen erwähnt, die vermittlungstechnisch geschickt zur Veranschaulichung von ansonsten schwer zu visualisierenden chemischen und biologischen Vorgängen eingesetzt werden37.
„Bootes Geschick im Umgang mit der Struktur seiner Filme besteht darin, dass er seine Themen scheinbar gemeinsam mit dem Publikum erarbeitet, indem er wie ein "Entdecker" durch die Schauplätze seiner Handlung streift.“38 Dieses Zitat umschreibt sehr gut einen Aspekt, der wohl einen Teil des besonderen Reizes dieser beiden Filme ausmacht:
Boote arbeitet nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und tritt nicht schon zu Beginn mit einer bestimmten Haltung oder bestimmten Ansichten auf, sondern vermittelt dem Zuseher den Eindruck, sich seine –zum Schluss der Filme sehr gefestigten - Meinungen erst im Lauf seiner „persönliche[n]Suche nach einer Antwort“39 und in Auseinandersetzung mit den gefundenen Informationen zu bilden40 – und ladet ihn dadurch gleichsam ein, ihn auf dieser Reise zu begleiten und es ihm gleichzutun.
Was die beiden Dokumentationen vielleicht am stärksten verbindet, ist die extreme Durchdringung der Filme mit der Person Werner Bootes. Er ist nicht nur in den meisten Szenen zu sehen und zu hören und teilt seine Gedanken und Meinungen sowohl mit Interviewpartnern als auch dem Zuseher, sondern lässt auch unüblich private und intime Elemente in seine Filme einfließen (wobei dies auf den Film Plastic Planet stärker zutrifft): Boote verwendet Aufnahmen von sich als Baby und als Kleinkind, lässt den Zuseher neben sich und seiner Mutter am Grab seines Großvaters stehen41, und nimmt ihn schließlich sogar in seine eigene Wohnung mit42! In Population Boom wählt Boote einen etwas anderen Weg – obwohl es auch hier nicht an persönlichen Mitteilungen fehlt43 -, indem er seine Person mit einem schwarzen Regenschirm verknüpft, den er beinahe den ganzen Film über bei sich behält. Obwohl dieser Schirm auch selbst thematisiert wird44, wirkt er doch seltsam deplatziert, und der Verdacht liegt nahe, dass hier der Versuch unternommen wurde, eine Art „Marke Boote“ zu kreieren, den Schirm also in erster Linie als Attribut zur Wiedererkennung und Hervorhebung Bootes in den verschiedenen Umgebungen einzuführen.
Bootes Kinodokumentationen können als globale Filme angesehen werden, und dies in doppelter Hinsicht: Einerseits behandeln all seine Kinofilme (denn auch auf seinen bislang letzten Kinofilm „Alles unter Kontrolle“, welcher das Thema Überwachung behandelt, trifft dies zu) sozialpolitische und gesellschaftliche Thematiken und Probleme, die nicht lokaler oder regionaler Natur sind, sondern die Erde und Weltbevölkerung als Ganzes betreffen, und andererseits ist in diesen Arbeiten der Versuch erkennbar, diese ganze Welt in Bilder zu fassen, die globale Dimension dem Zuseher begreifbar zu machen, unter anderem mithilfe des in beiden Filmen beliebten und wiederkehrenden Motivs des Erdballs45. Boote behandelt die Themenkomplexe Plastik(gefahr) und Überbevölkerung nicht exemplarisch an je einem Beispiel, sondern reist im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Themen quer über den Globus. Europa, Nordamerika, der Ferne Osten, Südasien und Afrika sind die Schauplätze beider Dokumentation46, Australien und Südamerika werden weder gezeigt noch erwähnt.
Erkennbar ist Bootes Intention, die Betroffenheit aller Menschen durch das Abbilden und Zu-Wort-Kommen-Lassen von Menschen aller Hautfarben zu vermitteln.
Die Botschaft scheint klar: Egal ob Tochter eines Erkrankten in Venedig, Künstler in Japan oder Müllsammlerin in Indien – diese Themen (im genannten Fall: Plastik) gehen uns alle an.
Sowohl in Plastic Planet als auch in Population Boom wird mit Metaphern und Doppeldeutigkeiten gearbeitet, manchmal offenkundig, manchmal auf äußerst subtile Art und Weise und den Zuseher möglicherweise unbewusst beeinflussend.
Wenn in Plastic Planet über Bootes aufblasbaren Plastikglobus gesprochen wird, lässt sich das Gesagte auch auf die tatsächliche Erde beziehen47, und wie Clara Migsch richtig anmerkt, gibt es auch zahlreiche Szenen, die „das Umschlossensein (…) mit Plastik demonstrieren sollen“48, als Beispiel sei nur jene genannt, in der Boote, mit sichtlichem Unbehagen, versucht, in einer kleinen Plastik-Schlafkabine eine bequeme Ruheposition zu finden49.
Aber auch in Population Boom werden Metaphern eingesetzt, etwa wenn Boote, mitten auf der Straße stehend oder sogar langsam vor einem Zug spazierend50, wiederholt den Verkehrsfluss stocken lässt. Diese Szenen können im Rahmen der Thematik Überbevölkerung vordergründig so gelesen werden, dass dort, wo es (zu) viele Menschen gibt, sich diese im Weg stehen und behindern, aber gleichzeitig auch so – und diese Deutung entspräche dem Geist des Filmes-, dass eigentlich nur etwas Rücksichtnahme aufeinander nötig wäre, um ein funktionierendes Miteinander zu ermöglichen. Es ist vermutlich auch kein Zufall, dass, während Boote aus dem Off die Theorien des Thomas Malthus erklärt (Selbstzerfleischung der Menschheit als Folge der Überbevölkerung), ein grinsendes Skelett auf einer Halloweenparade gezeigt wird51: Offensichtlich eine Metapher für den angedrohten Tod, aber durch das Grinsen (und das durch die Kieferbewegung angedeutete „Schwatzen“ des Skeletts) möglicherweise auch schon ein Symbol dafür, dass Boote diese Theorien – wie sich im Folgenden ja noch herausstellt – nicht ernst nimmt.
Zusammenfassend lassen sich also zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den behandelten Dokumentationen festmachen, sowohl die eingesetzten Methoden als auch die Rolle des Regisseurs betreffend gibt es Parallelen; beide Filme behandeln sozialkritische Probleme globalen Ausmaßes und bedienen sich (wobei dieser Punkt im Vergleich zu den zuvor genannten weniger ins Gewicht fällt) unter anderem einer metaphorischen Bildsprache.
Dass die Eindrücke, die sie beim Rezipienten hinterlassen, dennoch recht unterschiedlich ausfallen, ist den nichtsdestotrotz vorhandenen Unterschieden geschuldet, denen die folgenden zwei Unterkapitel gewidmet sind.
Erzähltechnisch kann man die beiden Filme Plastic Planet und Population Boom dahingehend unterscheiden, dass es bei Plastic Planet Elemente gibt, die, bildlich gesprochen, als Klammer für die erzählte Geschichte einer „Suche nach Antworten“ fungieren und auf die wiederholt Bezug genommen werden, während solche wiederkehrenden Motive bei der Dokumentation Population Boom, welche (im Vergleich) eher eine Abfolge mehrerer Einzelgeschichten darstellt, gänzlich fehlen.
Konkret lassen sich bei Plastic Planet zwei solcher Elemente feststellen:
Das erste und dominantere ist jenes von Bootes Großvater, der in der Plastikindustrie gearbeitet hat. Mit ihm, dem damals noch davon begeisterten Kleinkind Boote Plastikspielzeug bringend52, beginnt der Film, und an seinem Grab, an dem sich Boote und seine Mutter über die Vorzüge von natürlichen Blumen gegenüber Plastikblumen unterhalten53, endet er auch. Aber auch dazwischen, etwa am mit Plastikmüll bedeckten Strand der „Island of Nature“54 oder auf einer Kunststoffmesse in Düsseldorf55, bezieht sich Boote wiederholt auf seinen Großvater.
Das zweite Element besteht in der Person des John Taylor, der als Vertreter der von Boote angeprangerten Plastikindustrie sozusagen als Antagonist fungiert – oder zumindest als jemand, dessen Ansichten denen Bootes diametral gegenüberstehen.
Die Funktion der John Taylor behandelnden Szenen liegt meines Erachtens in erster Linie darin, den Wandel zu verdeutlichen, den Boote im Laufe seiner Recherchen hinsichtlich Plastik durchmacht: Während das erste Gespräch, zu Beginn der Dokumentation, neutral, ruhig und höflich verläuft56, lässt sich die zweite Begegnung, bei der Boote John Taylor als Mitverantwortlichen öffentlich mit seinen recherchierten Ergebnissen bezüglich der Gefahren von Plastik konfrontieren will57, als Auseinandersetzung charakterisieren; ein echtes Gespräch kommt hier gar nicht erst zustande.
Vergleichbare Elemente, die einen Rahmen bilden würden, oder dazu dienen, das Ende der Dokumentation erzählerisch mit dem Beginn zu verknüpfen, sucht man bei Population Boom vergebens.
Mit diesem Begriff soll der Unterschied bezeichnet werden, welcher zwischen den Filmen hinsichtlich des Faktors Raum besteht, denn obwohl beide Dokumentation an zahlreichen Orten über die ganze Erde verteilt (vgl. Kapitel 4.1 Globaler Ansatz) gedreht wurden, wurde das Darstellen dieser Vielfalt in den fertigen Filmen verschieden umgesetzt:
In Plastic Planet finden viel häufiger Ortswechsel statt, den einzelnen Orten wird dafür weniger Zeit gewidmet, der ganze Film wirkt dadurch räumlich dynamischer. In Population Boom hingegen wird eine Großregion nach der anderen behandelt, sozusagen ein Gebiet nach dem anderen abgehakt58, wobei hier viel länger auf die jeweilige Region fokussiert wird59.
Während hier die Region nach Abschluss eines solchen Blocks nicht weiter thematisiert wird, also kein Gebiet von Boote sozusagen zweimal besucht wird60, wird in Plastic Planet wiederholt zwischen den Staaten hin- und hergesprungen (zu nennen sind hier etwa Österreich, die USA, Japan und Belgien, welche alle zu verschiedenen Zeitpunkten wiederkehrend Schauplatz der Dokumentation sind).
Festzuhalten ist, dass die unterschiedliche Art des Raumwechsels dazu beiträgt, dass Population Boom einen ruhigeren, gemächlicheren, „stabileren“ Eindruck hinterlässt, während Plastic Planet durch die sehr rasche Abfolge der Orte schneller, dichter, gedrängter, um nicht zu sagen hektischer61wirkt.
Dieser Punkt sollte im Zusammenhang mit dem eben Genannten betrachtet werden:
Was sich bezüglich der Orte beobachten lässt, kann man grundsätzlich auch auf die Gespräche in den Dokumentationen übertragen, also auf die Art, wie Interviews, Unterhaltungen und Statements in den beiden Werken eingesetzt werden.
Wie auch die Regionen sind die Gesprächspartner in Population Boom im wahrsten Sinne des Wortes einmalige: Kein einziger hat im Verlauf des Filmes einen weiteren Auftritt.
Ganz anders bei Plastic Planet: Einige Interviewpartner (vor allem wissenschaftliche Experten62) kehren mehrmals wieder.
Ein weiterer Unterschied ist die nur in Plastic Planet eingesetzte Technik von (scheinbar) parallel laufenden Interviews mit thematisch korrelierenden Inhalten, also Sequenzen, bei denen sich Gespräche mit zwei verschiedenen Personen wiederholt miteinander abwechseln63.
Auch was die Vielfalt sowie die dem einzelnen Fall jeweils gewidmete Zeit angeht, ähneln die Unterschiede zwischen den Filmen den Raum betreffend denen hinsichtlich der Gespräche: Während beim Abspann von Plastic Planet 30 Interviewpartner angeführt werden64, sind es im Film Population Boom nicht mehr als 18. Daraus, und aus der Tatsache, dass, wie oben erwähnt, einige dieser 30 Personen mehrmals zu Wort kommen, ergibt sich, dass die einzelnen Unterhaltungen in Plastic Planet im Schnitt kürzer ausfallen als in Population Boom65.
Alles in allem verstärkt dies den erwähnten Unterschied im Gesamteindruck: Auf der einen Seite der rasante, schlag-auf-schlag-gehende Stil Plastic Planets, auf der anderen Seite die im Vergleich entschleunigte Herangehensweise in Population Boom.
Was die beiden Filme weiters unterscheidet, ist der Einsatz (und Nicht-Einsatz) eines persönlich durchgeführten Aktionismus Bootes zur Verdeutlichung seiner Anliegen, wobei ein solcher in Plastic Planet erfolgt und in Population Boom fehlt. Drei als aktionistisch zu bezeichnende Handlungen Bootes – der vermutlich nicht zuletzt aus diesem Grund in Medien bereits als „Österreichs Michel Moore“66 tituliert worden ist – möchte ich im Folgenden als Beispiele anführen: Erstens, wenn Boote mit John Taylor während einer Plastikmesse und vor den Augen der Öffentlichkeit über die Schädlichkeit von Plastik sprechen will, wobei er in einem roten Trolley „700 Studien mitgebracht [hat], die die Gefahren von Plastik beweisen [sic!]“67, in einer zweiten Szene, wenn Boote in einem Technikgeschäft die Käufer lautstark – die Stimme verstärkt von einem Megaphon – vor Plastik zu warnen versucht68, und schließlich, wenn er in einem Supermarkt auf Plastikflaschen Warnhinweise anbringt, wie man sie von Zigarettenschachteln („Plastik tötet“) gewöhnt ist69 – diese letzte Szene folgt im Film geschickterweise direkt auf einen an Boote von einem Businesspeaker gerichteten Appell, doch Vertrauen in die Plastikindustrie zu haben, und soll auf spektakuläre Weise zeigen, was Boote von diesem Ratschlag hält.
Dass sich dieser Aktionismus in erster Linie an den Zuseher richtet, und nicht etwa an die unmittelbar an der Situation Beteiligten, wird vor allem im zweiten genannten Beispiel klar:
Hier wendet sich Boote mit in Deutsch gehaltenen Parolen an die des Deutschen in der Regel wohl unkundigen ostasiatischen Besucher des Geschäfts – diese werden also nur vordergründig angesprochen, der eigentliche Adressat ist hier eindeutig der Zuseher, es geht tendenziell mehr um die Botschaft „es hat etwas zu geschehen“ als um das Geschehen an sich.
Insgesamt hat man es in Plastic Planet also mit einem aktiveren, „zupackenden Boote“ zu tun, während in Population Boom ein ruhigerer, passiverer, „zuhörender Boote“ vorherrscht.
Der Regisseur von Plastic Planet und Population Boom, welcher den Zuseher höchstpersönlich durch seine Filme begleitet, ist ein angenehmer Reisegenosse: Werner Boote lächelt und lacht in beiden Dokumentation viel, scherzt beizeiten mit seinen Gesprächspartnern, wirkt stets neugierig und in manchen Einstellungen gar verspielt.
Dennoch lassen sich Unterschiede festmachen: In Population Boom wirkt Boote gelöster; Szenen, die Boote zufrieden zeigen und auch dem Zuseher ein glückliches Gefühl vermitteln sollen, herrschen vor, zum Beispiel, wenn Boote beim Tanzen mit einer Mexikanerin gezeigt wird70, anlässlich einer chinesischen Hochzeit mitteilt, wie gern er glückliche Menschen sieht71, oder ohne Not, wie es scheint aus reinem Übermut, beinahe ein Boot zum Kentern bringt und anschließend in schallendes Gelächter ausbricht72.
In Plastic Planet, ungeachtet ebenfalls vorkommender Auflockerungen, wird insgesamt ein nachdenklicherer, bedrückterer Boote gezeichnet: Etwa wenn er sich in einem Flugzeug – eingeschlossen in und umgeben von Plastik – sichtlich unwohl fühlt73, dem Zuseher seine Gedanken über seine langsame, durch Plastik verursachte Selbstvergiftung mitteilt74 oder, wie er es bis zu diesem Zeitpunkt schon öfters getan hat, in der 57. Filmminute erneut an Plastik riecht- diesmal jedoch am Plastik einer durch Epoxidharze mumifizierten Leiche. Das Lächeln, welches das Beriechen von Kunststoff sonst stets begleitet hat, weicht in dieser Szene freilich einem betroffenen Gesichtsausdruck Bootes75.
Diese Entwicklung findet in jener Szene seinen Höhepunkt, in der Boote seine gesammelten Studien zu den Gefahren von Plastik vor sich ausbreitet und durchgeht: Während aus dem Off die warnenden (quasi geisterhaften) Stimmen von befragten Wissenschaftlern zu hören sind, wird Bootes Mimik im Verlauf des Datenstudiums immer bekümmerter; er greift sich an die Stirn, fährt sich mit der Hand über das Gesicht, seine Augen schimmern feucht76.
Die Botschaft, die Szenen wie die genannten an das Publikum richten (und die er an späterer Stelle auch ausspricht77), lautet: Boote hat Angst vor den Auswirkungen von Plastik – und der Zuseher sollte wohl auch besser zumindest ein bisschen Angst davor haben.
In Population Boom hingegen genau das Gegenteil: Der fröhliche, der tanzende, der in einer afrikanischen Geburtenstation glücklich die Neugeborenen beobachtende Boote fordert den Zuseher am Schluss seines Filmes explizit auf, keine Angst zu haben78.
Die im vorhergehenden Unterkapitel genauer ausgeführten Unterschiede lassen sich meines Erachtens zu einem großen Teil wie folgt erklären:
Die Unterschiede zwischen den beiden Dokumentationen sind bedingt durch die unterschiedlichen Haltungen des Regisseurs gegenüber den behandelten Thematiken und seinen aus diesen Haltungen resultierenden Vermittlungsinteressen.
Was ist hiermit konkret gemeint? In beiden Filmen geht es um Thematiken (Nachteile von Kunststoffen, Überbevölkerung), die man als Probleme globalen Ausmaßes beschreiben kann. Diese unterscheiden sich aber in zweierlei Hinsicht: Zum Einen ist (zumindest zum Zeitpunkt der Entstehung von Plastic Planet) das erstgenannte Problem der Bevölkerung (soll heißen: dem durchschnittlichen Zuseher) eher unbekannt, wohingegen das Problem Überbevölkerung den meisten Rezipienten schon im Vorhinein ein Begriff gewesen sein dürfte.
Zum Anderen, und das ist der springende Punkt, handelt es sich bei den Nachteilen von Plastik in den Augen Bootes um ein reales Problem, bei der Überbevölkerung um ein fiktives, also um kein Problem79 (beziehungsweise um ein andersgeartetes Problem als gemeinhin angenommen, nämlich dadurch, dass der verbreitete Glaube an das (eigentlich nicht existente) Phänomen der Überbevölkerung von tatsächlich gegebenen Missständen, etwa hinsichtlich der Ressourcenverteilung, ablenkt).
Die Aufgaben, die den beiden Filmen durch diese beiden Unterschiede zuteil werden, sind also grundverschiedene: Mit Plastic Planet soll ein beim Zuseher (noch) nicht vorhandenes Bewusstsein für ein real existentes Problem, für noch unerkannte Gefahren geschaffen werden; hierfür hat es Sinn, die Dokumentation beunruhigend, aufwühlend und -rüttelnd, im Vergleich also eher negativ zu gestalten.
Population Boom hingegen kommt die Aufgabe zu, eine bestehende Vorstellung über ein Problem zu dekonstruieren80, bereits vorhandene Ängste als irrational darzustellen und zu zerstreuen, die Botschaft, die vermittelt werden soll, lautet sinngemäß: „Sieh her, hierüber hast du dir ohne Grund Sorgen gemacht!“; ein unaufgeregter, ein fröhlicher und optimistischer Film dient diesem Zweck am ehesten.
Dieser Argumentation folgend und die verschiedenen Zielsetzungen vor Augen, fällt es leicht, die in Kapitel 4.2 behandelten Unterschiede zu erklären: Die raschen Ortswechsel, die vielen, schnell wechselnden, oft nur wenige Sekunden zu Wort kommenden Gesprächspartner in Plastic Planet sorgen für konstante Aufmerksamkeit und Anspannung beim Zuseher, in Verbindung mit dem sorgenvollen Habitus Bootes ergibt sich schließlich eine Stimmung, die gut geeignet ist, dem Rezipienten ein Problem näher zu bringen – und zwar nicht nur intellektuell, sondern auch, wenn nicht sogar vor allem, auf einer emotionalen Ebene.
Population Boom hingegen verläuft langsamer und entspannter und lässt dem Zuseher Luft zum Atmen, der Film, könnte man sagen, nimmt sich seine Zeit, und sowohl dem Zuseher als auch dem, vergleicht man sein Gebaren hier mit jenem in Plastic Planet, wesentlich lockereren, mit Schirm und Anzug durch die Schauplätze seiner Dokumentation schlendernden Werner Boote werden zahlreiche Momente (vgl. Kapitel 4.2, Boote: Gestik, Mimik, Emotionen)geboten, die unter anderem dem Zweck dienen, ein Wohlgefühl aufzubauen.
Auch der behandelte Aspekt des Aktionismus lässt sich gut durch die Zweiteilung „reales Problem – fiktives Problem“ erklären. Bei einem realen Problem hat der Aktionismus Sinn, und dem angenommen Zweck einer Bewusstseinsbildung dient auch die Form, in der sich dieser Aktionismus äußert, wenn Boote arglose Einkäufer mit dem Megaphon belehrt und an Plastikprodukten, für jeden potentiellen Konsumenten ersichtlich, Warnhinweise anbringt.
Die Überbevölkerung hingegen als nicht-existentes Phänomen eignet sich wesentlich schlechter für Aktionen solcher Art.
Abschließend will ich zur Untermauerung des oben dargelegten Erklärungsansatzes die beiden jeweils letzten Sequenzen der Filme einander gegenüberstellen, da diese die Unterschiede zwischen beiden anschaulich wiedergeben und den beiden genannten Aufgaben „Beunruhigen-Beruhigen“ in besonderer Weise entsprechen.
Am Ende des Filmes81 sieht man Werner Boote und seine Mutter während eines Besuches am Grab seines Großvaters, der in der Plastikindustrie gearbeitet hat.
Wenn Boote dazu anmerkt: „Mein Großvater ist viel zu früh gestorben.“82, und im selben Atemzug hinzufügt: „Er hat damals einfach nicht wissen können, wie gefährlich Plastik ist.“83, dann wird, auch wenn Boote selbst diese Schlussfolgerung nicht explizit äußert, beim Zuseher die Vermutung geweckt, dass womöglich der lebenslange Umgang mit Plastik Bootes Großvater in sein frühes Grab gebracht hat.
Der eigentliche Film endet mit einer Frontaufnahme des Grabes. Kein lebender Mensch ist in dieser Einstellung zu sehen; dieses letzte Bild wird schließlich langsam abgedunkelt.
Doch dabei lässt Boote es nicht bewenden: Im direkt darauffolgenden Abspann84sieht man, bevor die Credits erscheinen, eine Darstellung der Erde, die sich, langsam um sich selbst drehend, allmählich in eine Plastikversion ihrer selbst verwandelt. Unterlegt wird diese Szene mit einer Spieluhrmusik, aus der man deutlich das Ticken einer Uhr heraushören kann – ein dezentes Zeichen, dass die Zeit eines vom Menschen so behandelten Planeten im Ablaufen begriffen ist.
Insgesamt also ein Ende, das wenig geeignet ist, den Zuseher den Kinosaal mit einem wohligen Gefühl verlassen zu lassen, sondern ihm vielmehr ein letztes Mal die Bedeutungsschwere des im Film aufgezeigten Problems nahebringen soll.
Eine völlig andere Stimmung wird mit dem Ende dieses Filmes vermittelt:
Hier85ist Boote mit zahlreichen anderen Menschen auf dem Dach eines fahrenden Zuges in Bangladesch zu sehen. Wenn er, anschließend an die Beobachtung, dass seine Mitreisenden angesichts eines drohenden Tunnels die Hände schützend über ihre Nachbarn legen, die persönliche Erkenntnis äußert: „Und ich weiß, dass es nicht darauf ankommt, wie viele wir sind, sondern wie wir miteinander umgehen.“86, dann fasst der zu diesem Zeitpunkt rundum glücklich wirkende Boote nicht nur in einem Satz, der im Übrigen auch sein letzter in dieser Dokumentation ist, die Grundbotschaft des gesamten Filmes zusammen, sondern will, in Kombination mit den gezeigten Aufnahmen der lächelnden und winkenden Zugfahrer und unterstützt von einer entspannenden und fröhlichen Musik, diesen gezeigten Optimismus und das demonstrativ ausgekostete Glücksgefühl auch auf den Rezipienten dieser Szenerie übertragen. Im anschließenden Abspann87wird dieser Versuch noch verstärkt durch parallel zu den Credits gezeigten Aufnahmen, die unter anderem verschiedene im Film erschienene Interviewpartner lachend oder lächelnd, kurz in ganz hervorragender Stimmung zeigen88.
Was mit diesem Ende vermittelt wird, ist ein uneingeschränkter Optimismus. Obwohl im Film
durchaus auch Probleme, vor allem Verteilungsungerechtigkeit, thematisiert werden, hat eine Erwähnung oder auch nur Anspielung auf diese in diesen letzten Aufnahmen keinen Platz; die positive Botschaft, dass selbst im dichtesten Gedränge der Mensch an sich kein Problem darstellt, sondern nur die Art des Miteinander entscheidend ist, ist hier die alleinig vorherrschende.
Wie ich in den vorangehenden Kapiteln aufzuzeigen hoffentlich im Stande war, können auch bei auf den ersten Blick handwerklich sehr ähnlichen Filmen bei genauerer Beobachtung Unterschiede festgestellt werden. Dennoch möchte ich in diesem letzten Kapitel den in dieser Arbeit angestellten Betrachtungen zwei Einschränkungen hinzufügen:
Zum Einen musste aufgrund der Thematik dieser Arbeit ein sehr starker Fokus auf die Unterschiede zwischen den beiden Dokumentationen gelegt werden. Da hier die Gefahr besteht, dass ein übertriebener Eindruck von diesen Differenzen vermittelt wurde, möchte ich an dieser Stelle betonen, dass meiner Meinung nach insgesamt die Gemeinsamkeiten89 zwischen diesen Werken Bootes überwiegen. Ziel dieser Arbeit war es nicht, das Trennende dieser Filme über das Gemeinsame zu stellen, sondern den Versuch zu machen, die trotz dieser Gemeinsamkeiten zu findenden Unterschiede anhand der verschiedenen Vermittlungsinteressen, die Boote mit diesen Dokumentationen meines Erachtens verfolgt hat, plausibel zu begründen.
Zum Anderen ist mir bewusst, dass die Art meiner Herangehensweise einen stark subjektiv geprägten Charakter hat. Obwohl ich hoffe, meine verschiedenen Deutungen der verschiedenen Filmelemente und der von Boote eingesetzten Techniken nachvollziehbar dargestellt zu haben, bleibt es doch ein Faktum, dass es sich hier um meinen persönlichen Zugang zu diesen Filmen handelt, und dass es ohne Weiteres möglich ist, dass andere Personen, die sich mit diesen beiden Arbeiten auseinandersetzen, zu anderen, genauso legitimen (oder legitimeren) Schlussfolgerungen gelangen; ich möchte meine Stellungnahmen keinesfalls als absolut oder alleingültig verstanden wissen.
Abschließend ist es mir ein Anliegen, die behandelten Filme (und damit Werner Boote selbst) ein letztes Mal hervorzuheben: Was Boote mit diesen (und seinen anderen Kinoproduktionen) anstrebt, ist das Schaffen eines globalen Bewusstseins, einer, eine treffendere Bezeichnung als diese habe ich noch nirgends gefunden, „weltbürgerlichen Solidarität“90, und dieses in meinen Augen wirklich bedeutende Ziel ist der eigentliche Grund, weshalb ich seine Werke in dieser Arbeit behandelt habe.
„Er hat mich auch gelehrt, von meiner Vernunft gebraucht zu machen“91, sagt Boote in Plastic Planet über seinen Großvater – und ich bin überzeugt, dass eine tiefergehende Auseinandersetzung mit seinen Werken (zu der ich mit dieser Arbeit einen Teil beizutragen hoffe) dabei helfen kann, von der eigenen Vernunft Gebrauch zu machen.
Literaturverzeichnis und Fußnoten
Verfasser: Max KlimeschLehrveranstaltung: 070048-1 Guided Reading [GR] - Österreich Bilder. Eine Filmgeschichte.LV-Leiter: Mag. Dr. Hannes LeidingerSoSe 2016, Universität WienEingereicht am 20. Juli 2016
Wissenschaftliche Arbeit über Werner Bootes Operndokus