"BOOTE IST EIN EINDRUCKSVOLLES STÜCK BILDUNGSKINO GELUNGEN.
ER RICHTET DIE SCHMERZVOLLEN WAHRHEITEN UNTERHALTSAM AN
UND MONTIERT SIE ZU STARKEN, SCHÖNEN BILDERN."
- Format (17.12.2015, Nr: 51/52)
- Format (17.12.2015, Nr: 51/52)
Werner Boote hat es wieder getan. Der notorische neugierige Wiener Filmemacher steckt seine Nase wieder einmal in Dinge, die ihn nichts angehen. Oder gehen sie ihn doch etwas an? Oder, noch genauer, gehen sie nicht uns alle an – so wie schon seine Recherchereisen in Sachen Kunststoff (in Plastic Planet) und in Sachen Überbevölkerung (in Population Boom)? Die allgegenwärtige Überwachung durch öffentliche und private Kameras, GPS, Handys und Internet, das Gefühl, Big Brother habe sich nun endgültig verselbständigt – das ist ein heißes Thema so recht nach Bootes Geschmack. Es ist ein Thema, das uns allen im Nacken sitzt, auch wenn wir es nur allzu oft und allzu gerne verdrängen.
Mit dem ihm eigenen, scheinbar „naiven“ Ansatz macht sich Werner Boote – „unterstützt“ von Siri, der sympathisch-synthetischen Frauenstimme seines iPhones – auf die Reise zu neuralgischen Punkten und zu wichtigen Playern des globalen Überwachungswahnsinns beziehungsweise zu dessen profiliertesten Gegnern. Von London in die USA, von Indien bis Hongkong, von China bis nach Kuba, wo er das perfekte Symbol für unseren gegenwärtigen Zustand in einem ehemaligen Gefängnis findet, ist Boote unterwegs. Dass ihm dabei viel Verblüffendes, Erschreckendes und zum Teil Bizarres widerfährt, kann einen nicht wirklich überraschen. Oder doch?
Wir glauben ja gerne, alles über die Welt, in der wir leben, zu wissen. Experten für „eh alles“ mögen einwenden, dass das, was Boote zeigt, doch „alles längst bekannt“ sei. Aber haben wir tatsächlich gewusst, dass die indische Regierung in einem wahnwitzig anmutenden Projekt bereits 700 Millionen Menschen, also rund die Hälfte der eigenen Bevölkerung, darunter die Ärmsten der Armen, optometrisch und digital erfassen hat lassen? Für Sujata Chaturvedi, die Leiterin dieses gigantischen Unterfangens, ist das ganz normal, Business as usual, und in keiner Weise bedenklich, ja, sie verweist auf den allumfassenden Nutzen dieser Maßnahme.
Oder haben wir gewusst, dass gewitzte Gegner der allumfassenden Überwachung – wie Jacob Appelbaum, Gründer und Entwickler des Anonymisierungsnetzwerks TOR – nicht einmal mehr Fingerabdrücke auf einem Trinkglas hinterlassen wollen? Appelbaum kennt da keinen Spaß. Mit Hilfe von Fingerabdrücken, sagt er, können man einem Menschen alles andichten und in die Schuhe schieben. Übersteigerte Paranoia? Wer weiß. Haben wir gewusst, dass die chinesischen Behörden anhand von Internet-Postings Profile einzelner Bürger anlegt und so deren „Wohlverhalten“ messen? Das ist, wie Lee Shuk Ching, eine der Organisatorinnen der Studentenproteste in Hongkong, ausführt, der Grund, warum die Teilnehmer nichts mehr posten, sondern nur noch Post-Its an die Wände kleben: analog statt digital.
Auch Emma Carr, Direktorin der britischen Organisation Big Brother Watch, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Überwacher zu überwachen und deren permanente Grenzüberschreitungen öffentlich zu machen, malt kein sehr erfreuliches Bild. Längst gehe es nicht mehr um „kleine Ausrutscher“, sondern darum, seine eigene Freiheit zu schützen und die Oberhoheit über die eigenen persönlichen Daten wiederzuerlangen, sagt sie. Der hoch angesehene finnische Cyber-Spezialist Mikko Hyppönen von F-Secure, mit dem sich Werner Boote von Hongkong aus per Skype unterhält, kann mühelos anhand der Tapete in Bootes Zimmer erkennen, in welchem Hotel sich der Filmemacher befindet – es ist das Mira, berühmt geworden als Aufenthaltsort des Whistleblowers Edward Snowden. Auch Hyppönen ist ein großer Skeptiker, was Mobiltelefone und Internet betrifft.
„Wer die Daten hat, hat die Macht“, stellt Werner Boote einmal ernüchtert fest. Aber wer sind die Guten, wer die Bösen in diesem System? Tatsächlich hat uns ja niemand gezwungen, in sozialen Medien unsere Hunde, unsere Frühstückscroissants oder unser Konsumverhalten offenzulegen. Warum tun wir es dann? Zygmunt Bauman, der aus Polen stammende und in England lebende 90-jährige Soziologe, weiß es: weil wir nicht allein sein können und wollen, weil die digitale Welt uns die Möglichkeit gibt, mit anderen nahezu unbegrenzt „zusammen zu sein“. Wir alle, so seine Schlussfolgerung, erschaffen „Big Brother“ gemeinsam. Oder, wie es Eric Pan, ehemaliger Hongkonger Hacker und nunmehriger Security-Guru, ausdrückt: „Neugier und Privatsphäre, das lässt sich nicht vereinbaren.“
Wie immer in seinen Filmen hat Werner Boote eine verblüffende Zahl an hochkarätigen Gesprächspartnern aufgetrieben, die auch tatsächlich Hochkarätiges zu sagen haben, Dinge, über die nachzudenken sich definitiv lohnt. Nur in Bluffdale (was für ein Name!) im US-Bundesstaat Utah, wo die NSA ihr bislang größtes Datenspeicher-Center errichtet hat, muss er notgedrungen auf Antworten verzichten. Angestellte der Organisation, denen er zwei Tage lange im Auto folgt, um sie in einer „harmlosen“ Umgebung zu befragen, verweigern ihm die Auskunft – einer von ihnen mit dem unschlagbaren Argument, er wolle seine Privatsphäre schützen …
Bild aus dem Film "Alles unter Kontrolle" - Werner Boote im Presidio Modelo, Kuba